Mitte August eskalierte der Machtkampf zwischen Muslimbrüdern und der vom Militär gestützten Übergangsregierung in Ägypten. Armee und Polizei stürmten gewaltsam die Protestlager der Bruderschaft in Kairo und Giza und machten die Camps dem Erdboden gleich. Das Massaker des 14. August war das schwerste Blutbad am Nil seit der Revolution und dem Sturz Hosni Mubaraks 2011. Die säkulare anti-militaristische gewerkschaftsnahe Opposition lief Gefahr zwischen den Fronten zerrieben zu werden. Das Land versank in nationalistischem Taumel. Wer das blutige Vorgehen gegen die Islamisten verurteilte und vor der Rückkehr des alten Regimes warnte, wurde des Verrats bezichtigt. Vergessen schienen die Hauptforderungen der Revolution, die auch beim Massenprotest im Juni 2013 gegen Mursi unüberhörbar präsent waren; Brot, Freiheit, soziale Gerechtigkeit. Regierung und Armee „entzweien die Massen und nutzen den Kampf gegen den Terror als Vorwand, um die Forderung nach sozialer Gerechtigkeit fallen zu lassen“, sagte Fatma Ramadan, Mitglied des Exekutivkomitees der Ägyptischen Föderation unabhängiger Gewerkschaften (EFITU), zwei Tage vor dem Massaker (erschienen in der Wochenzeitung am 28.11.2013).
Doch schon Ende Juli, rund drei Wochen vor Räumung der Camps, hatte eine neue Streikwelle am Nil begonnen. Vor allem der Streik von 2000 Stahlarbeiterinnen der Suez Steel Company sorgte für Zündstoff. Die Belegschaft forderte mit Verweis auf ein Abkommen mit der Chefetage des 2007 privatisierten Stahlunternehmens von 2012 die Auszahlung der vereinbarten Gewinnbeteiligung. Doch das Unternehmen weigerte sich die Abmachung mit Verweis auf angeblich niedrige Gewinnaussichten und anstehende Kreditrückzahlungen einzuhalten. 15 Streikführer wurden fristlos entlassen, drei Arbeiter verhaftet und von einem Gericht wegen „Anstiftung zum Streik“ verurteilt. Erst am 22. August einigten sich die Parteien. Unter Vermittlung von Arbeitsminister Kamal Abu Eita, einer Gallionsfigur der Gewerkschaftsbewegung am Nil, wurde der Ausstand beendet, die verhafteten Arbeiter freigelassen und die Entlassenen wieder eingestellt.
Die Intervention von Polizei oder Armee bei Arbeitsniederlegungen ist kein Einzelfall. Die Verhaftung von Streikenden gehört ebenso wie rechtkräftige Urteile gegen Gewerkschaftlerinnen zum Alltag. Die jüngsten Ereignisse in Suez zeigen vor welchen Herausforderungen Ägyptens Arbeiterschaft in ihrem Kampf für bessere Arbeitsbedingungen und höhere Löhne steht. Neben der Bereitschaft des Sicherheitsapparates auch bei Streiks mit Gewalt zu intervenieren macht vor allem der unklare rechtliche Rahmen Arbeitskämpfe in Ägypten zu einem Vabanquespiel. „Es gibt keine Tradition eines sozialen Dialoges oder kollektiver Verhandlungen. Es gibt keine Institution oder Gesetz, dass das Recht auf Dialog oder Verhandlungen garantiert. Dabei ist dies die Bedingung für sozialen Frieden“, so Mohamed Trabelsi, Sachverständiger für Arbeiterangelegenheiten im Kairoer Regionalsitz der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO).
Dabei sind Arbeitskämpfe in Ägypten nichts Neues. Das Land mit seinen rund 85 Millionen Einwohnern hat eine starke industrielle Basis. Ägyptens Textilindustrie gehört zu den größten weltweit. In den 1970er Jahren begann der Zustrom ausländischer Unternehmen auf den ägyptischen Markt, angelockt durch das niedrige Lohnniveau und Steuerfreiheit. Unabhängige Gewerkschaften sind jedoch ein relativ neues Phänomen, doch sind sie schon jetzt ein unverzichtbarer Pfeiler von Ägyptens Protestbewegung. Als Vorstufe zur Revolution erlebte Ägypten von 2006 bis 2010 eine beispiellose Welle an Arbeitskämpfen, die den Grundstein für die Massenproteste gegen Mubarak legte. Drei Millionen Menschen nahmen an über 2500 Streiks und Arbeitsprotesten teil. Nach der Revolution und der Gründungswelle unabhängiger Arbeitnehmervertretungen 2011 blieb diese Dynamik erhalten und dehnte sich gar noch weiter aus. Das Ägyptische Zentrum für soziale Rechte zählte 2011 rund 1400 und 2012 mehr als 3400 Protestaktionen wirtschaftlicher und sozialer Natur. Auch 2013 riss die dynamische aber weiter fragmentierte Streikwelle nicht ab. Streiks und Arbeitsproteste finden regelmäßig in einzelnen Unternehmen statt, gemeinsame oder landesweit koordinierte Aktionen bleiben die Ausnahme.
Wichtiger Motor dieser Entwicklung ist die Bewegung der Textilarbeiterinnen in Mahalla Al-Kubra, einer Industriestadt im Nildelta und Schauplatz der bisher größten Arbeitsniederlegungen vor Mubaraks Sturz. 2006 und 2008 streikten hier Zehntausende wochenlang für bessere Arbeitsbedingungen und höhere Löhne. Auch im August 2013 traten rund 24000 Angestellte der staatseigenen Mahalla Weaving and Textile Company in den Ausstand und forderten die Auszahlung der vereinbarten Gewinnbeteiligungen, denen die Unternehmensleitung nicht nachgekommen war. Drei Tage später lenkte die Chefetage ein. Der staatliche Gewerkschaftsbund ETUF hatte die Streikenden aufgefordert die Auszahlung ihrer Boni zu verschieben und den Ausstand zu beenden. Damit stellt sich die ETUF weiter gegen Forderungen der Arbeiterschaft, die ob der ausufernden Inflation, niedrigem Lohnniveau und des vakanten Gewerkschaftsrechts weiter die Zeche zahlt.
Trotz arbeits- und gewerkschaftsrechtlicher Gesetzesnovellen seit 2011 finden Streiks und Gewerkschaftsaktivitäten weiter in einer rechtlichen Grauzone statt. Nach dem Sturz Mubaraks ebenso wie nach der Absetzung Mursis im Juli 2013 wurde jeweils die Verfassung außer Kraft gesetzt. Es gilt daher nach wie vor das Gesetz Nr. 35 von 1976, das der ETUF das Monopol in Gewerkschaftsangelegenheiten gewährt, die Auflösung von Gewerkschaften per richterlichem Beschluss erlaubt und Löhne an die Produktion koppelt und nicht an das Preisniveau. Löhne in Ägypten unterteilen sich in einen Basislohn und Provisionen, wobei der Basislohn nur einen Bruchteil der Gesamtansprüche der Arbeiterinnen ausmacht. Daher ist die Auszahlung von Gewinnbeteiligungen bei Streiks oft die zentrale Forderung der Belegschaft.
Der im März 2011 vom damals regierenden Obersten Militärrat (SCAF) ernannte Arbeitsminister Ahmed Al-Borei hatte zwar in Kooperation mit der EFITU ein Gewerkschaftsgesetz auf den Weg gebracht, dass die Koalitionsfreiheit garantiert und den Mindestlohn auf 1200 ägyptischen Pfund (160 Schweizer Franken) festsetzt, doch der SCAF weigerte sich das Gesetz umzusetzen und verabschiedete stattdessen das Communiqué Nr. 5, das die Beteiligung an Streiks unter Strafe stellte. Al-Borei trat im November 2011 aus Protest gegen die anhaltende Kriminalisierung von Gewerkschaftsaktivitäten zurück. Zwar ist das Gesetz heute nicht mehr gültig, doch trotz eines Urteils eines Berufungsgerichts vom 17. Juni 2013, dass feststellte „das Recht auf Sit-Ins und Streiks ist durch die Verfassung garantiert“, werden Gewerkschaftlerinnen auf Grundlage von Gesetz Nr. 35 weiter rechtkräftig verurteilt. Dieses verfassungsgemäße Streikrecht wurde erstmals 1986 gerichtlich anerkannt, doch das Mubarak-Regime, der SCAF und die Regierung Mursi ignorierten das Urteil konsequent.
Unterdessen berufen sich Aktivisten bei Arbeitskämpfen auf internationale ILO-Abkommen, die Ägypten unterzeichnet oder ratifiziert hat und die Koalitionsfreiheit und Streikrecht garantieren. Abu Eita versprach wiederholt das Gesetz zur Legalisierung unabhängiger Gewerkschaften verabschieden zu wollen, doch geschehen ist nichts. Angekündigt hatte er zudem eine Reform des Arbeitsgesetzbuches und die Einführung von Mindestlöhnen. Das Kabinett beschloss zwar die Erhöhung des Mindestlohnes für den öffentlichen Dienst auf 1200 ägyptischen Pfund, doch Hatem Tallima, Aktivist der Revolutionären Sozialisten, zweifelt an der Umsetzung. „Die Regierung hat keine Ahnung wo das Geld herkommen soll. Zudem gilt der Mindestlohn für den Staats-, nicht aber den Privatsektor, wo das Gros der Arbeiterschaft beschäftigt ist.“
„Die Interimsregierung brauchte einen revolutionären Anstrich, daher hat man Abu Eita nominiert. Doch revolutionäre Kräfte sind im Kabinett die Minderheit, sie können nichts ausrichten“, sagt Tallima. Der Kampf der Arbeitnehmerschaft für bessere Arbeitsbedingungen und höhere Löhne hat seit der Revolution keine konkreten Verbesserungen gebracht. Dennoch: „Unabhängige Gewerkschaften sind eine Realität geworden in Ägypten. Unglücklicherweise ist dieser Realität noch keine Legitimität vor dem Gesetz gefolgt. Die Existenz solcher Gewerkschaften hat geholfen die Kooperation der Arbeiterschaft mit staatlichen Institutionen in Sachen Mediation und Konfliktprävention zu intensivieren. Das ist es, was eine demokratische Transition ausmacht und es kann helfen die Staatsinstitutionen zu demokratisieren“, hofft Trabelsi.
Der Unabhänige Gewerkschaftsverband EFITU und die Rolle Kamal Abu Eitas
Im Februar 2011 schlossen sich vier unabhängige Gewerkschaften unter Federführung des Gewerkschaftsaktivisten und heutigem Arbeitsminister Kamal Abu Eita zur Ägyptischen Föderation unabhängiger Gewerkschaften (EFITU) zusammen, dem ersten unabhängigen Gewerkschaftsverbandes am Nil. Nach der Revolution schossen unabhängige Gewerkschaften aus dem Boden, über 1000 unabhängige Vertretungen formierten sich alleine 2011. Die EFITU repräsentiert heute rund 2,5 Millionen Beschäftige und macht der staatlichen Ägyptischen Gewerkschaftsföderation (ETUF) das Monopol streitig. Die ETUF, ein Überbleibsel des Mubarak-Regimes, hatte jeden Streikaufruf der letzten 15 Jahren konsequent abgelehnt und so die Entstehung unabhängiger Gewerkschaften selbst begünstigt. Die Funktionärsebene der ETUF gilt als korrupt und von Mubarak-Getreuen durchsetzt. Seit den 1950ern war der Arbeitsminister stets ein Gewerkschaftler, meist aus den Reihen der ETUF. Nach Berufung des ehemaligen EFITU-Chefs Abu Eita zum Arbeitsminister in der amtierenden Interimsregierung ging die ETUF auf die Barrikade und forderte die Ernennung eines Vertreters aus den eigenen Reihen.
Abu Eita hatte den Streik der Finanzbeamten 2007 angeführt und mit dem Streik maßgeblich dazu beigetragen, dass die Regierung ihren Forderungen nachgab. 2008 wird die von Abu Eita geführte Gewerkschaft der Gewerbesteuerprüfer als Ägyptens erste unabhängige Gewerkschaft anerkannt. Seine Berufung ins Kabinett ist in Gewerkschaftskreisen heftig umstritten, versucht das Regimes doch so die unabhängige Gewerkschaftsbewegung zu kooptieren, zu spalten und nicht erwünschte Gewerkschaftsaktivitäten auszubremsen. Seit seiner Ernennung verurteilte Abu Eita wiederholt Streiks und Arbeitnehmerproteste und ließ im Oktober eine Demonstration vor dem Arbeitsministerium gewaltsam auflösen. Abu Eita, Gründungsmitglied der nasseristischen Karama-Partei, die unabhängige Gewerkschaftsaktivitäten ablehnt und ein nationalistisch-autoritäres Staatsverständnis verfolgt, droht vom neoliberalen Kurs der Regierung überrollt zu werden.
© Sofian Philip Naceur 2013