“Wir haben das Territorium befreit, aber nicht das Volk“ sagt Ali Yahia Abdennour, ehemaliger Kämpfer der algerischen Guerillabewegung Nationale Befreiungsfront (FLN) im Krieg gegen Frankreich. Mit koordinierten Anschlägen im ganzen Land begann am 1. November 1954 der Krieg, dem Anfang vom Ende der 132 jährigen französischen Kolonialherrschaft in Algerien. Acht Jahre und eine Million Tote später endet Algeriens erste Revolution mit der Unabhängigkeit des Landes. FLN und Armee übernehmen 1962 die Macht und sollten diese bis zum heutigen Tage nicht mehr loslassen. Während FLN und algerisches Militär bis heute einen wesentlichen Teil ihrer Legitimität aus dem antikolonialen Kampf beziehen und die Erinnerungen an den Unabhängigkeitskrieg aus Selbsterhaltungstrieb mit viel Getöse aufrechterhalten, hat Frankreich bis heute mit dem Verlust seiner wichtigsten Kolonie zu kämpfen. Als Siedlungskolonie war Algerien aus Sicht der Pariser Regierung ein elementarer Teil Frankreichs. Eine Million französischer Siedler siedelten sich bis 1954 in Algerien an und waren formell französische Bürger, der autochthonen arabisch-berberischen Bevölkerung jedoch waren volle Bürgerrechte vorenthalten. Das Kolonialregime in Algerien war ein brutales Zwei-Klassen-System, Unterdrückung und Enteignung der Einheimischen war per Gesetz legal. Doch hat sich Algeriens Gesellschaft durch die blutig erkämpfte Unabhängigkeit wirklich vom Joch der Besatzung, Unterdrückung und politisch-sozialer Repression befreien können? (erschienen in der Trikont-Beilage der Jungen Welt vom 23.10.2013).
Oppositionelle wie der Schriftsteller Boualem Sansal beantworten die Frage mit Nein. „Die Grausamkeit unserer Brüder ist entsetzlicher, als die Gier der Siedler es je war“, schreibt er in seinem Essay „Postlagernd: Algier“. Bereits 1962 legten Armee und FLN die Grundlage für den „Bankraub des Jahrhunderts“, wie Sansal die Monopolisierung der Macht nennt, und stellten die Weichen für Algeriens neue Autokratie. FLN und Armee schufen ein repressives Einparteienregime. Sie nahmen einfach den Platz der Kolonisatoren ein und ersetzten schlicht ein Unrechtsregime durch ein anderes.
Die Militärs wollt den Einfluss der FLN zurückdrängen und entledigten sich Bouteflikas – zumindest vorerst. Er wurde aus der FLN ausgeschlossen, der Korruption angeklagt und floh ins Exil. Bendjedid machte Schluss mit dem Staatssozialismus Boumediénnes. Die Liberalisierung der Wirtschaft ging einher mit einer Privatisierungswelle, von der regimenahe Kader aus Armee und FLN profitierten. Die Korruption in Algeriens Staats- und Bürokratieapparat breitete sich in den 1980ern wie ein Lauffeuer aus, ein wichtiger Faktor für den Ausbruch der zweiten Revolution. Am 5. Oktober 1988 erschütterte eine von der Jugend getragene Massenrevolte gegen Korruption, politische Repression und die FLN-Herrschaft das Land.
Am 11. Februar 1992 putschte die Armee. Die FIS wurde verboten, ihre Mitglieder verfolgt und inhaftiert. Ein Teil der FIS-Anhänger radikalisierte sich und ging in den Untergrund. Algeriens „schwarzes Jahrzehnt“ hatte begonnen. Radikale Islamisten verübten Anschläge auf Einrichtungen von Staat und Armee, bevor sie anfingen gezielt Liberale, Journalisten und Ausländer zu exekutieren. Unterdessen holte Algeriens Geheimdienst DRS zum Gegenschlag aus. Der gefürchtete Geheim- und Sicherheitsdienst DRS, der sich in den blutigen 1990ern zu einem Staat im Staate entwickelt hatte, begann massiv islamistische Zellen zu unterwandern und teils zu steuern. Der DRS soll an zahlreichen Massakern an Zivilisten im ganzen Land direkt oder indirekt beteiligt gewesen sein. Ziel der zweifelhaften und riskanten Strategie des Anti-Terror-Kampfes: die Islamisten öffentlichkeitswirksam zu diskreditieren und damit den eigenen Machterhalt abzusichern.
Bis zu 200000 Menschen sollen dem Bürgerkrieg zum Opfer gefallen sein. Doch für Armeeführung und FLN war die vom DRS strategisch und gezielt verschärfte Gewaltspirale der rettende Anker ihrer in Verruf geratenen Herrschaft. Abdelaziz Bouteflika, noch Ende der 1970er vom Militär ausgebootet, wird 1999 als Konsenskandidat mit gutem Draht zu FLN und Armee zum Staatspräsidenten gewählt. Unter seiner Regentschaft endete der Krieg, die Machtfülle von DRS und Militär blieben jedoch unangetastet. Heute präsentieren sich Militär und FLN als unverzichtbares Bollwerk gegen islamistischen Terror, der sich im Sahel-Raum ausgebreitet hat. Der Terror, an dessen Ausbreitung der DRS nicht unbeteiligt war, wird vom Regime geschickt genutzt, um sich im Westen mit modernsten Waffen einzudecken und vor dem eigenen Volk den ausufernden Verteidigungsetat zu rechtfertigen. Algerien leistet sich den mit Abstand größten Rüstungsetat Afrikas.
„Heute wollen viele Jugendliche nur noch weg aus Algerien, sie haben keine Perspektive“, sagt Sansal. Menschenrechte werden mit Füßen getreten. Demonstrationen in Algier sind grundsätzlich verboten und werden mit Gewalt aufgelöst, in den Gefängnissen wird gefoltert. Behörden schikanieren unabhängige Gewerkschaften und Menschenrechtsgruppen. Die ökonomische und soziale Lage gleicht einem Pulverfass. Algeriens zweite Revolution 1988 wurde vom Machthunger des FLN und der selbstherrlich im Hintergrund regierenden Armee gezielt sabotiert. Legitimiert durch den Aufstieg der Islamisten festigte das Regime seine Macht. Bis heute regiert ein undurchsichtiges korruptes Geflecht aus FLN-Kadern und Militärs, das den Reichtum Algeriens und politische Partizipation monopolisiert und der Gesellschaft vorenthält.
© Sofian Philip Naceur 2013