Das Rennen um das höchste Staatsamt Tunesiens geht erwartungsgemäß in die zweite Runde. Offizielle Ergebnisse der ersten Runde der Präsidentschaftswahl vom letzten Sonntag stehen noch aus, doch schon jetzt ist klar wer in der Stichwahl antreten wird. Nach Auszählung von über 90 Prozent der Wahlzettel liegt der Vorsitzende der erst 2011 gegründeten Partei Nidaa Tounes (Ruf Tunesiens) Béji Caïd Al-Sebsi mit 39,5 Prozent der Stimmen in Front. Tunesiens amtierender Übergangspräsident Moncef Marzouki, Vorsitzender des sozialdemokratischen Kongress für die Republik (CPR), kommt demnach auf rund 33 Prozent, obwohl seine Partei bei der Parlamentswahl im Oktober regelrecht abstürzte und nur vier von 29 Sitzen verteidigen konnte. Al-Sebsi und Marzouki stehen sich damit am 28. Dezember in einer Stichwahl gegenüber (erschienen in Junge Welt am 26.11.2014).
Hamma Hammami von der Volksfront, einem Bündnis von neun linken und sozialistischen Parteien, die bei den Parlamentswahlen im Oktober noch überraschend stark abgeschnitten hatte, landete bei rund 10 Prozent der Stimmen auf dem dritten Platz. Vierter wurde der Oligarch und Chef der Freien Patriotischen Union (UPL) Slim Riahi, dessen Partei bei der Legislativwahl mit 16 Mandaten unerwartet drittstärkste Kraft wurde. Die Präsidentschaftswahlen verliefen ebenso wie die Parlamentswahl ruhig und ohne nennenswerte Zwischenfälle. In Tunesien hatte es im Sommer vermehrt Attentate islamistischer Gruppen gegeben, daher war im Vorfeld der Wahlgänge von einer erhöhten Gefahr terroristischer Übergriffe ausgegangen worden. Die Regierung ließ den Urnengang mit zusätzlichen Sicherheitskräfte absichern, doch es blieb ruhig.
Die Wahlbeteiligung lag nach offiziellen Angaben bei landesweit knapp 65 Prozent und damit leicht höher als noch bei den Parlamentswahlen. In den einzelnen Wahlbezirken schwankte die Beteiligung zwischen 53 und 73 Prozent und war damit gemeinhin stabil. Von den rund 7,8 Millionen Wahlberechtigten in Tunesien hatten sich jedoch nur rund 5,3 Millionen Menschen für die Wahlgänge registrieren lassen, die tatsächliche Wahlbeteiligung liegt daher deutlich niedriger.
Al-Sebsi Einzug in die Stichwahl ist keine Überraschung, doch ein derart starkes Ergebnis des Kandidaten der anti-islamistischen Nidaa Tounes Partei war zuletzt eher bezweifelt worden. Zahlreiche Parteien und auch Präsidentschaftskandidaten hatten im Wahlkampf wiederholt auf Al-Sebsis Verbindungen zum gestürzten Präsidenten Ben Alis verwiesen und das Bild eines wiederkehrenden alten Regimes an die Wand gemalt. Tatsächlich ist seine Partei ein Sammelbecken für Ben Ali nahe stehende Kader und punktete schon bei der Parlamentswahl mit ihrer Stimmungsmache gegen die islamistische Ennahda-Partei, die seit der Revolution eine einflussreiche Rolle in Tunesiens politischem Geschäft spielt. Bei der Parlamentswahl verlor Ennahda an Zustimmung und stellte bei der Präsidentschaftswahl keinen eigenen Kandidaten auf. Zwar verweigerte die Partei eine klare Wahlempfehlung, doch dürfte das gute Abschneiden Marzoukis darauf zurückzuführen sein, dass zahlreiche Wahlberechtigte aus dem islamistischen Lager für ihn stimmten. Marzoukis CPR hatte sich nach den Wahlen 2011 als Juniorpartner der Ennahda-Regierung angeschlossen und pflegt durchaus gute Beziehungen zu der islamistischen Partei. Zwar hatte sich Marzouki 2013 nach den Morden an den beiden Linkspolitikern Chokri Belaïd und Mohamed Brahmi aus den Reihen der Volksfront von der Ennahda-Regierung distanziert, doch abgebrochen sind die Beziehungen zu den gemäßigten Islamisten nie.
Trotz des Rückstands auf Al-Sebsi in der ersten Runde der Präsidentschaftswahl hat Marzouki durchaus Chancen sich in der Stichwahl gegen Al-Sebsi durchzusetzen. Schon unter der Regentschaft Ben Alis war der Menschenrechtler Marzouki politisch aktiv und opponierte offen gegen das Regime. Ihm könnten am Ende sowohl Stimmen aus dem islamistischen als auch aus dem linken Lager zu Gute kommen. Die Stichwahl bleibt damit spannend.
© Sofian Philip Naceur 2014