Eine Demonstration von Angehörigen der so genannten „Verschwundenen“ in Algerien wurde am Sonntag gewaltsam von Polizei und Militärpolizei aufgelöst. Rund 50 Aktivisten hatten sich am Vormittag vor dem Justizministerium in El Biar, einem Stadtviertel im Herzen der Hauptstadt Algier, versammelt und für ihr Recht auf Wahrheit und Gerechtigkeit protestiert. Rund 20 Demonstranten wurden vorläufig verhaftet, unter anderem Youcef Benbrahim, der Vize-Präsident von Amnesty International in Algerien. Auf Grundlage eines präsidialen Dekrets sind Demonstrationen in Algier seit 2002 grundsätzlich verboten. Proteste in Algier finden daher oft nach dem Flashmob-Prinzip statt, da „Versammlungen“ von mehr als drei Personen vom Sicherheutsapparat als „Gefährdung der nationalen Sicherheit“ eingestuft werden (erschienen in Junge Welt am 2.10.2013).
Organisiert wurde die Demonstration vom Kollektiv der Familien der Verschwundenen in Algerien (CFDA), einer in Paris ansässigen Menschenrechtsorganisation, und ihrem algerischen Ableger SOS Verschwunden. Menschenrechtsgruppen wie SOS arbeiten in Algerien oft in einer rechtlichen Grauzone, da Behörden die offizielle Registrierung verweigern oder den Registrierungsprozess gezielt verschleppen. Die Organisation kämpft für die Aufarbeitung der Gräueltaten während des „Schwarzen Jahrzehnts“. In den 1990ern lieferten sich gewaltbereite Islamisten und der Sicherheitsapparat einen brutalen Bürgerkrieg, dem bis zu 150000 Menschen zum Opfer fielen. Beide Seiten verübten grausame Verbrechen an der Zivilbevölkerung. Polizei und Militärs verhafteten Tausende und internierten und folterten diese teils jahrelang. Knapp 20000 Menschen sollen verschwunden sein. Die Familien haben nie wieder etwas von ihren Angehörigen gehört und wissen nicht, ob sie nach wie vor in einem der hermetisch abgeriegelten Militärgefängnisse interniert oder tot sind.
Die Behörden sprechen offiziell von rund 8000 Verschwundenen. Der seit 1999 amtierende Staatspräsident Abdelaziz Bouteflika initiierte zu Beginn seiner Amtszeit eine Kampagne zur nationalen Versöhnung und ließ am 29. September 2005 per Referendum über die Charta für den Frieden und nationale Versöhnung abstimmen. Die Charta wurde mit großer Mehrheit angenommen, wobei die offizielle Zahl zur Wahlbeteiligung massiv gefälscht sein dürfte. Die Charta soll einen Schlussstrich unter den Bürgerkrieg ziehen und mittels einer Amnestie-Regelung reuigen Islamisten Anreiz geben die Waffen niederzulegen. Kritiker betonen die Charta sei eher ein Instrument, um die Verbrechen von Angehörigen des Sicherheitsapparates zu amnestisieren. Algeriens Geheimdienst DRS hatte in den 1990ern massiv islamistische Gruppen unterwandert und gesteuert und war an Massakern an Zivilisten direkt beteiligt, um die Islamisten zu diskreditieren.
SOS Verschwunden und CFDA organisierten die Demonstration am Sonntag anlässlich des Jahrestages des Referendums. Mit der Protestaktion wollten die Angehörigen der Vermissten an Justizminister Tayeb Louh appellieren die Charta aufzuheben, da das Gesetz die Verantwortlichen für das Verschwinden von Unschuldigen amnestisiere und dies dem in der Charta implementierten Recht der Familien auf Wahrheit und Gerechtigkeit wiederspreche. Die Charta legalisiere die Straflosigkeit für die Verbrechen und sei ein Hindernis einer „nationalen Aussöhnung“ heißt es in einer Mitteilung von CFDA, in der auch die gewaltsame Beendigung der Demonstration durch die Polizei vom Sonntag verurteilt wird.
Zügig nach Beginn der Demonstration am Sonntag verhaftete die Polizei 25 Aktivisten. Nach Aufnahme der Personalien auf dem Kommissariat wurden alle Verhafteten wieder freigelassen. Unter den Verhafteten waren auch zahlreiche alte Menschen, die wie die Jüngeren mit Gewalt verhaftet wurden. Nassera Dutour, Sprecherin von SOS Verschwunden, betont, derartige kurzweilige Verhaftungen seien die Regel bei Protesten in Algier. Die Polizei nutze diese Methode, um Proteste zügig aufzulösen und für möglichst wenig langfristige Aufmerksamkeit auch durch die Presse zu sorgen.
© Sofian Philip Naceur 2013