Von Ain El Hayat Zaher und Sofian Philip Naceur, Kairo
Während sich die politische Situation in Ägypten langsam beruhigt und die Proteste der Muslimbrüder zuletzt stetig an Zugkraft verloren, gewinnen Streiks und Arbeitskämpfe zunehmend an Dynamik. In Mahalla al-Kubra im Nildelta legten im August zehntausend Textilarbeiterinnen die Arbeit nieder, um gegen nicht getätigte Bonuszahlungen zu protestieren, während der Streik von Beschäftigen einer Stahlfabrik in Suez Ende August von der Armee gewaltsam aufgelöst wurde. Mehrere Streikende wurde verhaftet und erst nach Vermittlung von Arbeitsminister Kamal Abu Eita wieder freigelassen. Auch im öffentlichen Dienst sind Debatten um Lohnniveau und Arbeits- und Streikbedingungen in vollem Gange. Anfang August ließ das Gesundheitsministerium Streiks in öffentlichen Krankenhäusern per Anordnung verbieten und zog damit den Unmut der Ärztegewerkschaften auf sich. Beschäftige im staatlichen Gesundheits- und Bildungssystem gelten als chronisch unterbezahlt. Während Lehrerinnen Privatunterricht anbieten, um ihr Einkommen aufzustocken, führen Ärzte oft eigene Praxen, da auch sie von den staatlichen Löhnen nicht leben können (in gekürzter Fassung erschienen in Junge Welt am 17.9.2013).
„Ich verdiene 190 Euro im Monat, damit kann ich meine Familie nicht ernähren. Das Geld ist nach einer Woche aufgebraucht“, sagt der Grundschullehrer Yahia Elmenshawy. Die Unterbezahlung des Lehrkörpers wirkt sich auf die Qualität der staatlichen Bildung aus und fördert die soziale Segregation. Immer mehr Eltern schicken ihre Kinder auf Privatschulen, aber diese sind teuer und bleiben armen Familien verschlossen. Ägyptens staatliche Grundschulen sackten im weltweiten Vergleich zuletzt immer weiter ab.
Am 10. September, dem Jahrestag des landesweiten Lehrerstreiks von 2011 mit 40000 Teilnehmern, versammelten sich 100 Demonstranten vor der staatlichen Lehrergewerkschaft in Kairo und forderten die Absetzung des Vorstandes und des Vorsitzenden Ahmed Halawani, einem Mitglied der Muslimbrüder. Er hatte im Juni 2012 die gewerkschaftsinternen Wahlen gewonnen und damit den Muslimbrüdern einen Machtzuwachs im staatlichen Gewerkschaftsapparat beschert. Die aus Alexandria angereiste Demonstrantin Rawhia Abo Ghaly wirft ihm vor Gelder veruntreut zu haben, nicht jedoch ohne zu betonen, dass auch vor seinem Amtsantritt Korruption in der Gewerkschaft zum Tagesgeschäft gehört habe.
„Wir fordern angemessene Löhne, unbefristete Verträge und Respekt“, sagt Abo Ghaly. Sie ist im Nationalen Bildungsrat aktiv, einem unabhängigen landesweit operierenden Verbund von an staatlichen Schulen angestellten Lehrerinnen, der im Rahmen monatlicher Treffen mit Vertretern des Bildungsministeriums über die Reform des Schulsystems verhandelt. Elmanshawy lehnt Verhandlungen mit dem Bildungsministerium derzeit strikt ab, er fürchtet dieses könnte versuchen die unabhängige Lehrerbewegung zu kooptieren. Die Mitgliedschaft in der staatlichen Lehrergewerkschaft ist Voraussetzung für die Anstellung an einer öffentlichen Schule. Die Abgaben für die Gewerkschaft werden direkt vom Lohn abgezogen, ein Verfahren, dass unabhängige Gewerkschaften strukturell benachteiligt.
Unabhängige Gewerkschaften konnten seit der ägyptischen Revolution 2011 deutlich freier agieren und treten seither dem mächtigen staatlichen Gewerkschaftsapparat entgegen. Die Debatten um eine Reform der Gewerkschafsgesetze sowie der Einführung von Mindest- und Maximallöhnen werden unterdessen immer intensiver. Das Arbeitsministerium arbeitet derzeit an einem Gesetz, das die Arbeit unabhängiger Gewerkschaften erleichtern soll. Wie das Gesetz am Ende aussehen könnte, ist noch unklar. Auch ein Mindestlohn im öffentlichen Dienst wird von der Regierung diskutiert. Die Ernennung Abu Eitas zum Arbeitsminister wird derweil von vielen Stimmen als Versuch der Regierung gewertet die unabhängige Gewerkschaftsbewegung zu spalten oder zu kooptieren. Abu Eita saß dem Ägyptischen Verband unabhängiger Gewerkschaften (EFITU) vor, einem Dachverband von rund 300 unabhängigen Gewerkschaften und war ein Anführer der Arbeiterproteste der vergangenen Jahre. Ob er als Minister seine damaligen Forderungen durchsetzen kann, darf angesichts des neoliberalen Profils des Kabinetts von Premierminister Hazem El-Beblawi bezweifelt werden.
© Sofian Philip Naceur 2013