Die Lage in Ägypten hat sich am Sonntag vorerst leicht entspannt. Die Muslimbrüder, die weiter die Wiedereinsetzung des Expräsidenten Mohammed Mursi fordern, haben die für gestern geplanten Proteste in Kairo „aus Sicherheitsgründen“ kurzfristig abgesagt. Mursi war Anfang Juli vom Militär gestürzt worden. Noch am Freitag hatten Tausende Islamisten in der Hauptstadt Kairo demonstriert und sich am Ramses-Platz heftige Kämpfe mit den Sicherheitskräften geliefert. Die Armee riegelte die Innenstadt hermetisch ab und ließ Panzer auffahren. Die Zentralen Sicherheitskräfte (CSF), eine paramilitärische dem Innenministerium unterstelle Polizeieinheit, gingen derweil mit Tränengas und scharfer Munition gegen die Protestler auf dem Ramses vor und ließen die Al-Fattah Moschee räumen, in der sich hunderte Menschen verschanzt hatten. In die Moschee, in der ein Feldlazarett errichtet worden war, hatten sich Bewaffnete geflüchtet und vom Minarett aus auf die anrückenden CSF-Kräfte geschossen (erschienen in Junge Welt am 19.8.2013)
Nach offiziellen Angaben starben allein am Freitag landesweit 173 Menschen, allein 95 davon in Kairo. Die Bruderschaft spricht von insgesamt 213 Toten und kündigte weitere Proteste an. Auch gestern zogen wieder Tausende Anhänger des am 3. Juli von der Armee abgesetzten Ex-Präsidenten Mohamed Mursi durch Kairo. Die Menschenrechtsorganisation Amnesty International (AI) verurteile derweil die harte Gewaltanwendung durch Ägyptens Sicherheitskräfte und fordert eine unabhängige Untersuchung. Für heute rief AI zu einer Demonstration vor der ägyptischen Botschaft in Berlin auf.
Derweil diskutiert die Übergangsregierung unter Premierminister Hazem Beblawi offen über ein neuerliches Verbot der Muslimbruderschaft, die von Regierung, Armee und dem Großteil der liberalen und staatssozialistischen Opposition, die sich fast geschlossen auf die Seite der Generäle gestellt hat, für die Eskalation der Gewalt verantwortlich gemacht wird. Mit einem Verbot der Bruderschaft wäre der Status Quo von vor der Revolution 2011 fast vollständig wieder hergestellt. Armee und Regierung haben erfolgreich den gewaltbereiten Teil der Muslimbrüder auf die Straße getrieben und nutzen deren Attacken gegen Kirchen und staatliche Einrichtungen nun als Vorwand, um die Organisation zu dämonisieren und den alten Herrschaftsapparat zu reaktivieren.
Ein Blick auf die Übergangsregierung genügt. Im Kabinett Beblawi sitzen zahlreiche Ex-Kader der inzwischen aufgelösten Nationaldemokratischen Partei (NDP) Hosni Mubaraks. Dazu kommen Reaktivierung der gefürchteten Geheimpolizei, Einschränkung ausländischer Berichterstattung und Verhängung des Ausnahmezustandes. Doch das alte Geflecht aus NDP, Militärs und wirtschaftlicher Elite muss sich derzeit gar nicht verstecken. Geschicktes Taktieren hat es den Kadern des alten Regimes erlaubt die Opposition gegeneinander auszuspielen, sie zu korrumpieren und zu instrumentalisieren.
Führungskader der Bruderschaft sind zwar ebenso für die Radikalisierung ihrer Basis verantwortlich, doch die derzeitige gewaltsame Unterdrückung gegen die Organisation ist vorerst die letzte Stufe der Konterrevolution. Die Muslimbrüder haben sich seit dem Sturz Mubaraks 2011 verkalkuliert, standen sich selbst mit ihrem politischen Machtanspruch im Wege und haben der Rückkehr des Polizeistaates den Weg geebnet. Trotz ihrer wichtigen Funktion im Machtapparat Mubaraks vermochte es die Armee nach dessen Sturz Distanz zum Führungszirkel der NDP zu wahren. Die Machtübernahme des Obersten Militärrates (SCAF) im Frühjahr 2011 ließ damit einen Teil des alten Regimes an der Macht und erleichtert es diesem nun unter Führung von Verteidigungsminister Adel-Fattah El-Sisi die alten Machtverhältnisse wiederherzustellen.
© Sofian Philip Naceur 2013