Seit der gewaltsamen Räumung der Protestcamps der Muslimbrüder in Kairo durch Ägyptens Sicherheitskräfte versinkt das Land in einer Spirale der Gewalt. Nach amtlichen Angaben wurden bei dem brutalen Polizeieinsatz mindestens 624 Menschen getötet, allein 384 davon bei der Räumung der Protestlager an der Moschee Rabaa Al-Adawija in Nasr City im Osten Kairos und dem Nahda-Platz in Giza. Das Innenministerium spricht von 46 getöteten Polizisten und 578 Zivilisten. Die Bruderschaft gießt derweil Öl ins Feuer und rief gestern erneut zu einem „Tag des Zorns“ auf. Der Kampf für den Sturz des „illegitimen Regimes“ sei eine „islamische, nationale, moralische und menschliche Pflicht“, heißt es auf ihrer Website. Dutzende Protestzüge formierten sich allein im Großraum Kairo und zogen zum Ramses-Platz im Zentrum der Hauptstadt. Heftige Ausschreitungen zwischen Sicherheitskräften und teils bewaffneten Anhängern der Bruderschaft brachen aus und verwandelten die Innenstadt in ein Kriegsgebiet. Auch in anderen Städten des Landes zogen Anhänger der Bruderschaft auf die Straße, attackierten Polizei- und Militäreinrichtungen und brannten Regierungsgebäude nieder (erschienen in Junge Welt vom 17.8.2013).
Ägypten erlebt zudem eine beispiellose Welle sektiererischer Gewalt. In Oberägypten wurden christliche Einrichtungen von aufgebrachten Anhängern der Bruderschaft angegriffen. In Minya, Assiut, Sohag und Fayoum, Städte, die in den letzten Jahren immer wieder von religiös motivierter Gewalt erschüttert wurden, brannten dutzende Kirchen nieder. Auch in Suez, Kairo und Giza wuren Kirchen angezündet. Die Maspero Youth Union, eine christliche Jugendorganisation, verurteilte die Gewalt aufs Schärfste und warf der Bruderschaft vor sich bei den Christen für den Sturz Mohamed Mursis rächen zu wollen und einen „Vergeltungskrieg“ gegen Ägyptens Christen ausgelöst zu haben.
Während die Partei für Freiheit und Gerechtigkeit (FJP), der politische Arm der Bruderschaft, die Gewalt gegen Christen offiziell verurteilte, sagte der Sprecher der Muslimbrüder Gehad El-Haddad das Blutbad vom Mittwoch erschwere es der Organisation ihre Mitglieder und Anhänger zu gewaltlosem Widerstand zu überreden. Die Bruderschaft hat offenbar die Kontrolle über den gewaltbereiten Anteil ihrer Anhängerschaft verloren. Dennoch hat ihre Führung eine Eskalation der Gewalt billigend in Kauf genommen, auch wenn noch nicht hinreichend geklärt ist, ob Übergangsregierung und Armee oder die Bruderschaft für den Abbruch der Verhandlungen über eine friedliche Lösung der Krise verantwortlich ist.
Ein Anwohner eines in Giza attackierten christlichen Gemeindehauses stellt zudem die berechtigte Frage warum keine Sicherheitskräfte an Kirchen postiert wurden. Seit 2011 haben Armee und Polizei bei Ausschreitungen zwischen Christen und Muslimen sowie politischen Gegnern immer wieder gezielt nicht eingegriffen, die Gewalt eskalieren lassen und sich nach spätem Eingreifen öffentlichkeitswirksam für die Wiederherstellung der Ordnung feiern zu lassen. Die Gewaltwelle gegen Ägyptens Christen könnte derweil die internationale Kritik am harten Vorgehen von Polizei und Armee gegen die Protestcamps der Bruderschaft schnell verstummen lassen, Rufe nach Wiederherstellung der Ordnung dürften folgen.
Die Opposition gibt unterdessen ein erschreckendes Bild ab. Die Nationale Heilsfront, eine Allianz wirtschaftsliberaler Parteien, der auch die Partei des zurückgetretenen Vizepremiers Mohamed El-Baradei angehört, rief die Bevölkerung auf gegen den Terror der Muslimbrüder auf die Straße zu gehen, machte die Muslimbrüder für die Eskalation der Gewalt verantwortlich und stellte sich demonstrativ auf die Seite der Regierung. Die Revolutionären Sozialisten distanzieren sich scharf von der Position der Heilsfront und werfen ihr vor die massive Polizeigewalt vom Mittwoch zu verharmlosen.
© Sofian Philip Naceur 2013