Ägyptens Sicherheitsapparat hat am frühen Mittwochmorgen mit der Räumung der Protestcamps der Muslimbrüder in Ägyptens Hauptstadt Kairo begonnen und ging mit äußerster Härte gegen die seit Wochen stattfinden Demonstrationen an der Moschee Rabaa Al-Adawija in Nasr City im Osten Kairos und am Nahda-Platz in Giza vor. Die Zeltlager wurden von Armee und Polizei umzingelt, vollständig abgeriegelt und mit Bulldozern dem Erdboden gleich gemacht. Armee und Polizei setzten Tränengas, Gummigeschosse und scharfe Munition ein. Nach Angaben der Nachrichtenagentur AFP sollen allein an der Rabaa Al-Adawija mindestens 124 Menschen getötet worden sein (erschienen in Junge Welt am 15.8.2013).
TV-Bilder zeigen wie vermummte Scharfschützen von Dächern nahe gelegener Häuser auf die Demonstranten schossen. Die Anhänger der Muslimbrüder warfen Steine und Feuerwerkskörper auf anrückende Polizeieinheiten. Militärhelikopter kreisen über der Stadt. Kairo ist komplett abgeriegelt worden, um den Zustrom von Anhängerinnen der Muslimbrüder in die Stadt zu unterbinden. Der Zugverkehr im Land wurde gestoppt. Der Verkehr in Kairo ist zusammengebrochen, da Sicherheitskräfte in der gesamten Stadt Straßen und Brücken über den Nil gesperrt haben. Die Bruderschaft rief unterdessen dazu auf, auf die Straße zu gehen und gegen die Brutalität der Sicherheitskräfte zu demonstrieren und Regierung und Armee aufzufordern „das Massaker zu stoppen“. In mehreren Stadtvierteln formierten sich Protestzüge von Anhängern der Bruderschaft und zogen durch die Hauptstadt.
Die Regierung lobte die „Zurückhaltung“ der Sicherheitskräfte bei der Räumungsaktion, verkündete am Nachmittag den Ausnahmezustand und macht die Bruderschaft für die Eskalation der Gewalt verantwortlich, die Muslimbrüder widersprechen. „Das ist kein Versuch die Proteste zu räumen, sondern der blutige Versuch alle oppositionellen Stimmen gegen den Militärputsch zu zermalmen“ sagte Gehad El-Haddad, Sprecher der Bruderschaft. Die Aufrufe der Organisation Widerstand gegen die Intervention der Sicherheitskräfte zu leisten und notfalls den Märtyrertod zu sterben heizen derweil die Gewalt auf Ägyptens Straßen weiter an. Auch in Suez, Port Said, Alexandria und anderen Städten fanden Ausschreitungen zwischen Anhängern der Bruderschaft und der Polizei statt.
In Fayoum südlich von Kairo, einer Hochburg der Bruderschaft, sind mindestens neun Menschen getötet worden. In Oberägypten im Süden des Landes sollen mindestens sieben Kirchen in Flammen aufgegangen sein, die christliche Minderheit beschuldigt die Muslimbrüder für die Übergriffe verantwortlich zu sein. Zudem häufen sich Angriffe auf christliche Geschäfte, allen voran des Mobilfunkunternehmens Mobinil des christlichen Milliardärs Naguib Sawiris, der die Unterschriftenkampagne für die Absetzung Mohamed Mursis als Präsident im Frühjahr mitfinanziert haben soll.
Nach dem Scheitern der internationalen Vermittlungsbemühungen vor gut einer Woche hatte die Bruderschaft erst am Montag Gesprächsbereitschaft signalisiert. Dennoch haben sich die Falken im Armee- und Regierungsapparat durchgesetzt und eine weiche Lösung zur Auflösung der Protestcamps verworfen. Die Armee hat seit der Absetzung Mursis alles daran gesetzt die Muslimbrüder zu dämonisieren, pauschal als „Terroristen“ bezeichnet und ihnen die Verantwortung für die Eskalation der Gewalt auf dem Sinai in die Schuhe geschoben. Das Militär setzt nun offen auf Konfrontation und stachelt die Bruderschaft erfolgreich zu Gegengewalt an. Zuletzt hatte die Organisation alles daran gesetzt dem Regime keinen Grund für eine gewalttätige Räumung ihrer Camps zu liefern, nachdem ihre Anhänger kurz nach dem Sturz Mursis Anfang Juli noch randalierend durch die Straßen gezogen waren.
© Sofian Philip Naceur 2013