Von den Drohungen der ägyptischen Übergangsregierung, die beiden Protestlager der AnhängerInnen des Anfang Juli von der Armee abgesetzten Präsidenten Muhamad Mursi mit Gewalt aufzulösen, war noch Anfang Woche wenig zu spüren. Im Gegenteil: Die Stimmung war ausgelassen. «Pro-Demokratie» und «Es lebe die Revolution» war auf Bannern in den Lagern zu lesen. Zuletzt hatte das Regime seine Präferenz für eine «weiche Lösung» signalisiert, bei der sie die Lager einkesseln und die Wasser- und Stromversorgung hatte abschneiden wollen. Dies hätte die Protestierenden über kurz oder lang mürbe gemacht. Doch am Mittwochmorgen begannen Armee und Polizei mit der gewaltsamen Räumung der Lager an der Moschee Rabaa Al-Adawija in Nasr City im Osten Kairos und am Nahda-Platz in Giza. Sie gingen dabei mit aller Härte gegen AnhängerInnen der Muslimbrüder vor, umzingelten die Lager und feuerten Tränengas sowie scharfe Munition in die Menge. Mursi-Anhänger versammelten sich überall in der Stadt zu Protestmärschen und lieferten sich Zusammenstöße mit Sicherheitskräften. Die Zahl der Opfer dieses exzessiven Gewalteinsatzes lag am Mittwochabend bei mindestens 149 Getöteten und tausenden Verletzten (erschienen in Die Wochenzeitung vom 15.8.2013).
Das Regime setzt also >auf Eskalation und macht es der Bruderschaft mit diesem neuen Massaker leicht sich als Märtyrer darzustellen>. Die Organisation ruft derweil zu weiteren Protesten gegen „das Massaker“ der Sicherheitskräfte auf – und giesst damit abermals Öl ins Feuer. «Heute steht in Ägypten jeder vor der Entscheidung: altes Regime oder Demokratie? Bist du für oder gegen den Putsch?», sagt Gehad El-Haddad, Sprecher der Bruderschaft. Es gebe in Ägypten derzeit nur zwei relevante politische Akteure: «das alte Regime und wir Muslimbrüder».
El-Haddads Aussage ist ein Sinnbild der politischen Polarisierung am Nil, die nicht nur von der Armee sondern auch von der Bruderschaft gezielt verschärft wird. Die Führungselite der Muslimbrüder ignoriert stur die Realitäten und hält an ihrer utopischen Maximalforderung, der Wiedereinsetzung Mursis als Staatspräsident, fest. Ihre Führungskader ziehen sich in die Opferrolle zurück. Mit ihrem Aufruf zu neuen Protesten setzen sie zudem leichtsinnig das Leben ihrer AnhängerInnen aufs Spiel.
Gleichzeitig wissen die Muslimbrüder, dass sie auch in Zukunft ein wichtiger politischer Akteur bleiben werden. Denn sollte das Projekt der liberalen Übergangsregierung scheitern, wird die Bruderschaft den im Hintergrund regierenden Militärs erneut als politisches Aushängeschild dienen wollen. Ein Aushängeschild, dass den wirtschaftspolitischen Status Quo nicht in Frage stellt, über grossen Rückhalt in der Bevölkerung verfügt und Chancen hat, erneut demokratisch gewählt zu werden. Hinzu kommt, dass sie ein akzeptabler politischer Partner für Europa und die USA waren und sind – auch wenn der Westen derzeit nur leise gegen das undemokratische und brutale Vorgehen der Generäle protestiert und sich auf die Seite der Armee geschlagen hat.
Die AnhängerInnen der Bruderschaft betonen, Mursis Regierung habe nicht genug Zeit gehabt, das Land zu reformieren. Das alte Regime sei noch an der Macht gewesen und habe die Arbeit des Präsidenten aktiv behindert. Diese weit verbreitete Ansicht ist der Nährboden, auf dem ein erneuter politischer Aufstieg der Bruderschaft möglich wäre. Zwar hat Mursi mit seiner wirtschaftspolitischen Inkompetenz das Land an den Rand des Kollapses geführt und bei Demonstrationen und Streiks selbst oft mit Gewalt reagiert. Doch dies war vor allem in Ägyptens urbanen Zentren der Fall, jedoch nicht auf dem Land, wo die Menschen mit den Folgen der neoliberalen Marktöffnung durch das Regime Hosni Mubaraks zu kämpfen haben. Durch ihre jahrelange karitative Arbeit im Bildungs- und Gesundheitssektor auf dem Land hat sich die Bruderschaft eine Basis geschaffen, die ihr weiterhin treu ergeben ist.
Nicht nur war Mursis Regierung unfähig, eine konsistente Wirtschaftspolitik zugunsten der verarmten Bevölkerung durchzusetzen. Sie hat durch ihre Arroganz und das sture Bestehen auf den Mehrheitsspielregeln die Opposition aus der verfassungsgebenden Versammlung vertrieben und sie von der Regierung fern gehalten. Damit hat sie das Entstehen einer breiten politischen Front gegen Kader des alten Regimes und der Armee verhindert und die Restauration des Polizeistaates selbst herausgefordert, der jetzt mit aller Gewalt zurückschlägt und die Bruderschaft gezielt provoziert, um die Gewalt gegen sie rechtfertigen zu können.
Der revolutionäre Teil der Opposition hat es schwer sich gegen das restaurierte alte Regime und die Muslimbrüder zu behaupten. Ein Grossteil der Mursi-GegnerInnen hat sich zudem allzu leicht vor den Karren der Generäle spannen lassen, als dies den Massenaufstand gegen Mursi am 30. Juni instrumentalisierten. Damals hatte sich das Gros der säkularen Opposition auf die Seite der Militärs geschlagen. Der kleinere Teil der Opposition, erklärte GegnerInnen der Bruderschaft wie auch der Militärherrschaft, steht seither auf verlorenem Posten. Die Demonstrationen dieses sogenannten «dritten Platzes» bleiben leer – zumindest bisher.
© Sofian Philip Naceur 2013